Nichts hören, nichts sehen – und doch kommunizieren.
Helen Keller und die Kraft der Berührung
Was wir von Helen Keller lernen können
Wie fühlt sich Berührung an, wenn sie die einzige Sprache ist?
Und wo berühren wir hörende Menschen uns überhaupt noch wirklich?
Nichts hören, nichts sehen – und nur durch Berührung kommunizieren. Kaum vorstellbar, oder? Für die meisten Menschen ist das ein Szenario aus einem Science-Fiction-Film. Für Helen Keller war es Realität – ein Leben lang. Und doch wurde sie zur weltweit bekannten Kämpferin für Inklusion, Bildung und Menschenrechte.
Wie viele taubblinde Menschen es in Österreich genau gibt, ist derzeit kaum erhoben. Schätzungen gehen von etwa 300 Personen aus. Diese Gruppe ist sehr vielfältig: Sie nutzt unterschiedlichste Kommunikationsmittel und technische Hilfen, um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.
In den USA studieren rund 200 taubblinde Menschen an der Gallaudet University – der einzigen Universität weltweit, die speziell für gehörlose Menschen gegründet wurde.
Am 27. Juni begeht die taubblinde Community jährlich den Internationalen Helen-Keller-Tag – ein Datum, das nicht nur an das Leben der bekannten Aktivistin erinnert, sondern uns auch dazu einlädt, neu über Kommunikation, Empathie und menschliche Nähe nachzudenken.
Besonders hörende Menschen, die bisher kaum Berührungspunkte mit der Lebenswelt taubblinder oder gehörloser Menschen hatten, können an diesem Tag einen neuen Blick auf Sprache, Ausdruck und zwischenmenschliche Verbindung gewinnen.
Halte dein Gesicht in die Sonne und du wirst sehen, es gibt keine Schatten.
Helen Keller

Die Frau, die die Welt trotz Dunkelheit und Stille verstand.
Helen Keller wurde 1880 in Alabama geboren. Im Alter von nur 19 Monaten verlor sie infolge einer Krankheit ihr Seh- und Hörvermögen. Was danach folgte, war ein zunächst völlig isoliertes Dasein. Kein Wort, kein Bild, kein Ton. Erst mit sieben Jahren veränderte sich ihr Leben durch eine entscheidende Begegnung: Anne Sullivan, eine junge Lehrerin, trat in ihr Leben.
Sullivan lehrte Helen das sogenannte Tadoma-Verfahren – eine Form der Kommunikation durch Berührung, bei der man beim Sprechen Lippen, Kiefer und Kehlkopf ertastet. Außerdem brachte sie ihr das Fingeralphabet in die Handfläche bei. Durch diese Berührungen öffnete sich für Helen die Welt. Sie lernte sprechen, schreiben, lesen – und sogar studieren.
Keller war die erste taubblinde Person, die einen Hochschulabschluss erlangte. Doch sie blieb nicht bei sich. Sie kämpfte Zeit ihres Lebens für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, für Bildung, Inklusion und Gleichstellung. Ihre Stimme war stark – obwohl sie sie auf ganz andere Weise erhob als die meisten von uns es tun.
Was bedeutet Sprache, wenn man weder hören noch sehen kann?
Und warum wir viel weniger wahrnehmen, als wir glauben
Sprache ist für hörende Menschen meist etwas Selbstverständliches. Wir sprechen, hören, lesen, schreiben – fast beiläufig. Doch was passiert, wenn zwei dieser vier Sinneskanäle wegfallen?
Für taubblinde Menschen ist Sprache eine Körpererfahrung. Kommunikation erfolgt oft durch taktiles Gebärden, das Fingeralphabet, durch Vibrationen, Mimik, Berührungen – durch jede noch so kleine Bewegung des Körpers. Das, was für viele nur Randaspekte der Kommunikation sind, wird zur Hauptsprache.
Dabei zeigt sich: Sprache ist mehr als Worte. Sie ist Bewegung, Nähe, Intention. Und das ist auch für hörende Menschen eine spannende Erkenntnis. Denn wie oft sprechen wir – ohne wirklich zu kommunizieren?
Seltene Aufnahmen von 1930:
Helen Keller spricht mit Hilfe von Anne Sullivan.
Wo berühren sich hörende Menschen noch? Wann hast du zuletzt eine Person beim Sprechen wirklich angeschaut, wirklich gespürt? In einer Welt voller digitaler Kommunikation, Emojis und Sprachmemos ist oft gar nicht mehr klar, was eigentlich echte Verbindung bedeutet.
Zwei Ikonen, eine stille Verbindung
Was ein Komiker und eine taubblinde Aktivistin gemeinsam hatten
Auf den ersten Blick könnten Charlie Chaplin und Helen Keller kaum unterschiedlicher sein. Der eine – weltberühmt als stumme Filmikone, als Komiker mit Melone, Stock und ausdrucksstarker Mimik. Die andere – eine taubblinde Frau, die sich durch ihre innere Stärke und Bildung zu einer der bedeutendsten Stimmen für Inklusion entwickelte.
Und doch gibt es eine tiefere Verbindung zwischen den beiden: die Macht der nonverbalen Kommunikation. Chaplin berührte Millionen – ganz ohne ein gesprochenes Wort. Er zeigte, wie Gestik, Mimik und Körpersprache Emotionen transportieren können, die keine Sprache braucht. Helen Keller wiederum spürte Worte mit den Händen, lernte, sich durch Berührung und Körperbewegung mitzuteilen – nicht weniger ausdrucksstark, nur eben auf andere Weise.
Die beiden trafen sich tatsächlich – im Jahr 1919 in Hollywood. Ein berühmtes Foto zeigt, wie Helen Chaplins Gesicht mit den Händen ertastet, um „mitzulesen“, was er sagt. Für sie war es ein Moment tiefer Verbindung – Kommunikation ohne Augen und Ohren, aber voller Menschlichkeit.

Vielleicht war es auch für Chaplin ein bedeutsamer Moment. Denn niemand verstand so gut wie Helen Keller, was es heißt, ohne Worte zu berühren.
Drei Wege, wie du am Helen-Keller-Tag neue Perspektiven entdecken kannst
Der Internationale Tag der Helen Keller ist nicht nur ein Anlass zum Erinnern, sondern auch eine Einladung zum Mitfühlen, Ausprobieren und Umdenken. Gerade für hörende Menschen, die sich bisher kaum mit der Welt taubblinder Menschen beschäftigt haben, kann dieser Tag ein wertvoller Impulsgeber sein – um neue Wege der Wahrnehmung zu entdecken und über die eigene Art zu kommunizieren nachzudenken.
Ein erster, ganz konkreter Schritt kann darin bestehen, sich mit der Gebärdensprachen wie zum Beispiel der Österreichischen Gebärdensprache oder der Amerikanischen Gebärdensprache auseinanderzusetzen. Auch wenn man hören kann, eröffnet das Lernen einfacher Gebärden – wie „Hallo“, „Danke“ oder „Wie geht’s?“ – ein völlig neues Gefühl für Sprache. Es zeigt: Kommunikation muss nicht laut sein, um zu berühren. Und manchmal sagen Hände mehr als Worte. Wer diesen Zugang einmal ausprobiert hat, wird merken, wie viel Respekt, Achtsamkeit und echtes Interesse in dieser Form des Austauschs steckt.
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Helen Keller
Geboren: 27. Juni 1880 in Tuscumbia, Alabama (USA)
Erkrankung mit 19 Monaten: Schweres Fieber führte zu vollständiger Erblindung und Ertaubung
Wendepunkt: 1887 Beginn der Arbeit mit Anne Sullivan – erste Kommunikation über taktile Fingerzeichen in die Hand
Spracherwerb: Lernte sprechen, lesen (Brailleschrift) und schreiben trotz doppelter Sinnesbehinderung
Studium: Ab 1900 am Radcliffe College (Harvard-Partnerinstitution für Frauen)
Abschluss: 1904 als erste taubblinde Person mit College-Abschluss (Bachelor of Arts)
Gestorben: 1. Juni 1968 in Connecticut, USA

Erfolge
Autorin von 14 Büchern, darunter die weltberühmte Autobiografie „The Story of My Life“
Internationale Rednerin für die Rechte von Menschen mit Behinderungen
Aktivistin für soziale Gerechtigkeit, Frauenrechte, Antikriegsbewegungen und Arbeiterrechte
Mitglied der Sozialistischen Partei Amerikas und später der American Foundation for the Blind
Weltweit auf Vortragsreisen in über 35 Ländern
Auszeichnungen, u.a.:
- Presidential Medal of Freedom
höchste zivile Auszeichnung der USA
1964
- Aufnahme
in die National Women’s Hall of Fame
Wegbereiterin für Inklusion, Bildung und barrierefreie Kommunikation

W-A-T-E-R
Die außergewöhnliche Lebensgeschichte von Helen Keller hat mehrfach den Weg auf die Leinwand gefunden – und berührt Zuschauer:innen bis heute tief.
Das Theaterstück „The Miracle Worker“ wurde erstmals 1959 am Broadway in New York aufgeführt. Geschrieben wurde es von William Gibson. Die bekannteste Verfilmung stammt aus dem Jahr 1962, mit Anne Bancroft als Anne Sullivan und Patty Duke als Helen Keller. Diese Verfilmung erhielt mehrere Oscars und machte die Geschichte weltberühmt.
Eine zentrale Szene – sowohl im Film als auch in der realen Biografie – hat sich weltweit eingebrannt: die „Wasser“-Szene. Anne führt Helen zur Wasserpumpe, lässt kühles Wasser über ihre Hand laufen und buchstabiert gleichzeitig mit der anderen Hand das Wort W-A-S-S-E-R in ihre Handfläche. In diesem Moment beginnt Helen zu verstehen, dass Worte für Dinge stehen – dass Sprache eine Brücke zur Welt ist.
Dieser Augenblick gilt als der emotionale und intellektuelle Durchbruch in ihrem Leben – und wird in vielen Verfilmungen als Wendepunkt dargestellt.
Ein weiterer, sehr eindrücklicher Weg, sich der Welt von Helen Keller anzunähern, ist ein bewusster Selbstversuch:
Was passiert, wenn man sich einen Moment lang vorstellt, weder sehen noch hören zu können?
Einfach einmal das Smartphone stumm schalten, das Display verdecken – und dann versuchen, sich allein durch Tasten und Fühlen zurechtzufinden. Schnell wird klar, wie abhängig wir von unseren Sinneskanälen sind – und wie wenig wir oft über deren Bedeutung nachdenken. In diesem kurzen Moment des Kontrollverlusts liegt ein Schlüssel zur Empathie: zu einem Gefühl dafür, wie herausfordernd und gleichzeitig kreativ der Alltag von Menschen mit Sinnesbehinderungen sein kann.
Die schönsten Dinge auf der Welt kann man weder sehen noch hören –
man muss sie mit dem Herzen fühlen.
Helen Keller
Dieses Zitat von Helen Keller berührt auf besondere Weise, weil es einen zentralen Gedanken vermittelt: Wirkliche Verbindung entsteht nicht durch Augen oder Ohren – sondern durch Mitgefühl. In einer Welt, die sich oft auf das Sichtbare und Hörbare beschränkt, erinnert uns dieser Satz daran, dass wahres Verstehen und echtes Miteinander viel tiefer liegen.
Gerade heute, in einer Zeit voller Reizüberflutung, digitaler Dauerkommunikation und wachsender sozialer Distanz, wird diese Botschaft immer bedeutsamer. Wertschätzung, Nähe und Inklusion entstehen dort, wo wir uns wirklich füreinander interessieren – nicht nur, wenn wir reden, sondern vor allem, wenn wir zuhören, hinspüren und Raum geben.
So kann der 27. Juni zu einem Tag werden, an dem wir nicht nur Helen Kellers Lebensleistung würdigen, sondern uns selbst fragen:
Wann habe ich zuletzt mit dem Herzen gehört – und mit dem Herzen gesprochen?